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Die Neunziger Jahre

… eine neue Berliner Legende??????

 

Innerhalb der letzten Jahre sind diverse Publikationen über das Berlin der 1990er erschienen, ganz zu schweigen von zahlreichen Artikeln in der Presse. Sie beschäftigen sich größtenteils mit dem Nachtleben jenes Jahrzehnts (sprich: Techno) und ein Hauch wehmütiger Nostalgie scheint in der Luft zu liegen. Liegt es nur daran, dass die Protagonisten jener Zeit nun etwa die Mitte ihres Lebens erreicht oder gar überschritten haben, den einstigen Schwung ihrer Jugend vermissen, und die Zeit gekommen sehen, eine erste Bilanz ihres Daseins zu ziehen? Weil das, was nach dem Techno kam, vielleicht nicht mehr ganz so aufregend war? Oder liegt es daran, dass etwa 15 Jahre nach dem Ableben eines jeden Jahrzehnts eben die üblichen Erinnerungsbücher erscheinen? Oder waren die 1990er in Berlin tatsächlich etwas besonderes – vielleicht sogar jenseits des Technos? Was bedeutete dieses Jahrzehnt für Berlin?

Nun, während die Neunziger keinesfalls mit den bahnbrechenden zwanziger Jahren vergleichbar waren, sollten sie doch eine der interessantesten und kreativsten Epochen Berlins darstellen: Durch die unerwartete Öffnung der Berliner Mauer, ihren folgenden Abriss und die spätere Wiedervereinigung der Stadt wurden die über Jahrzehnte hinweg „eingefrorenen“ geopolitischen Realitäten Berlins auf einen Schlag über den Haufen geworfen. Die Geschichte bewegte sich plötzlich so schnell, dass man kaum noch mithalten konnte.

Die alten Identitäten, geprägt durch den seit Jahrzehnten andauernden Kalten Krieg, lösten sich plötzlich auf: Berlin war keine „Frontstadt“ mehr – und auch keine „Hauptstadt der DDR“ mehr. Natürlich freuten sich die Berliner, dass der Albtraum der Teilung vorbei war und dass es keine Mauer mehr gab. Aber was würde nun kommen? Wie würde das „neue Berlin“ aussehen? Wie würde es funktionieren? Die kleine Welt der Großstadt Berlin war plötzlich nicht mehr überschaubar, nicht mehr berechenbar.

In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass Berlin während des Kalten Krieges nicht nur ein Ort der Konfrontation, der aufgeheizten Stimmung und der Klaustrophobie war. Es war zugleich auf beiden Seiten der Mauer gut durchsubventioniert und verhätschelt: West-Berlin wurde mit riesigen Geldsummen des Bundes am Leben erhalten. Und Ost-Berlin hatte als Hauptstadt gegenüber dem Rest der DDR ebenfalls einen privilegierten Status. Beide Teile Berlins verfügten über ein riesiges Heer an Bürokraten … und über größere Nischen für Unangepasste. Und beide Gruppen hatten Angst, nun etwas zu verlieren.

Die Entwicklungen der folgenden Jahre zeichneten sich durch eine markante Ambivalenz aus. Auf der einen Seite vollzog sich in der Stadt ein immenser Entwicklungsschub: Die veraltete Infrastruktur wurde modernisiert. Große Teile der maroden Bausubstanz im Osten der Stadt konnten saniert werden. Vom Mauerbau zerschnittene Straßen und Bahngleise wurden wieder miteinander verbunden. Ein neues Regierungsviertel entstand. Und ein neues Stadtzentrum wuchs aus der Brache am Potsdamer Platz empor. Und, nicht zu vergessen, ein Herr Christo und seine Frau kamen 1995 nach Berlin und verpackten den Reichstag!

Gleichzeitig war es aber für viele Berliner zu viel Umbruch in zu kurzer Zeit. Zudem musste die Stadt mit immensen wirtschaftlichen Problemen kämpfen: Die Subventionen waren größtenteils gestrichen worden und innerhalb kürzester Zeit türmte sich ein riesiger Schuldenberg auf. Die maroden, unwirtschaftlich arbeitenden Fabriken im Osten Berlins schlossen reihenweise. Unzählige Arbeitsplätze „wanderten“ nach Osteuropa ab, wo die Löhne niedriger waren. Man hatte den Eindruck, dass es nur noch bergab ging. Die stark ansteigende Anzahl ausländerfeindlicher Angriffe im Ostteil der Stadt schien nur eines der vielen Symptome dieser Krise zu sein.

Gleichzeitig sollte sich Berlin aber auch in einen riesigen Spielplatz für junge kreative Menschen verwandeln: Eine Stadt, in der Ost und West zusammenkamen, wo alte Verkrustungen aufgebrochen wurden, wo ein großes Vakuum nur darauf wartete, gefüllt zu werden. Im Ostteil der Stadt gab es überall leere Fabrikgebäude, verlassene Häuser und „vergessene“ Keller. Wer eine Unterkunft, einen Ort für Partys, einen Raum für eine Bar oder ein Atelier für seine Kunst brauchte – in den Bezirken Mitte, Prenzlauer Berg oder Friedrichshain wurde man schnell fündig. In diesem Zusammenhang waren die neunziger Jahre in Berlin eine Zeit des Improvisierens, des kreativen Chaos. Man legte los, man machte einfach!

Das große Angebot zur Verfügung stehender Räumlichkeiten vermittelte der Berliner Clubszene einen gewaltigen Schub und die Stadt sollte sich zur „Techno“-Bastion entwickeln. Zum ersten Mal seit dem „Krautrock“ der 1970er konnte Deutschland einen Beitrag zur internationalen Musikszene leisten. Techno wurde dann allerdings schnell Teil des Mainstreams und die jährlich stattfindende Love Parade sollte schließlich Millionen Menschen anziehen. Aber es ist das „Untergrund-Feeling“ der frühen Techno-Bewegung, auf dem die gegenwärtige Nostalgie-Welle basiert.

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