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2009: 20 Jahre danach...

Vor zwei Jahrzehnten wurde die Teilung Berlins durch die Wende und die folgende Wiedervereinigung beendet. Eigentlich kann man sich kaum vorstellen, daß „das alles schon zwanzig Jahre her ist“. Zugleich ist klar, dass es seitdem in Berlin immense Veränderungen gegeben hat. Die „Zwischenzeit“ der frühen neunziger Jahre, als alles im Umbruch war, verschwindet langsam im Nebel der Geschichte. Drehen wir doch die Zeit einfach mal zurück: Wer in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung Berlin besuchte, fragte sich immer wieder: „Wo bin ich hier eigentlich gelandet?“ Die Stadt kam einem oft wie ein fremder Planet vor. Die Jahrzehnte der Teilung hatten Spuren hinterlassen, die weitaus vielschichtiger waren als man es auch nur erahnen konnte. Man kam nach einer langen Fahrt in ölig riechenden Zügen am Bahnhof Zoo an, dessen Trostlosigkeit sich mit den Erwartungen deckte, die man nach der Lektüre von „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ bereits in sich trug. Dann begab man sich zum Kurfürstendamm, dem Symbol West-Berlins. Die Gedächtniskirche und das „KaDeWe“ strahlten einem als altbekannte Wahrzeichen entgegen. Das wollte man sehen, da wollte man hin, da musste man irgendwo eine Berliner Weiße trinken!

Andererseits konnte dem aufmerksamen Beobachter nicht entgehen, dass der legendäre „Kudamm“ doch etwas angestaubt und leicht heruntergekommen wirkte… als würde er sich nur noch im verblassenden Glanz vergangener Jahrzehnte sonnen. Überhaupt hatte diese Halbstadt mitunter etwas Provinzielles an sich. Und man merkte hier und da, dass ihre Bewohner es sich offenbar recht bequem im Schatten der Mauer eingerichtet hatten. Vielleicht hatten die üppigen Subventionen des Bundes doch eine gewisse Trägheit bewirkt. Indes stolperte man immer wieder über kleine Ungeheuerlichkeiten, Dinge, die daheim noch nicht einmal denkbar waren: So stand zum Beispiel an der Gedächtniskirche eine ältere Dame mit einem großen Plakat, das eine sehr explizite Botschaft zum Thema Sexualität enthielt – diese Person war im Grunde schon eine Institution und weit über die Grenzen ihrer Stadt hinaus bekannt. Oder man ging zu einem Kiosk und sah, dass dort außer den üblichen Tabakwaren auch Haschischpfeifen verkauft wurden – ganz normal, als wäre das nichts Besonderes!

Andererseits konnte dem aufmerksamen Beobachter nicht entgehen, dass der legendäre „Kudamm“ doch etwas angestaubt und leicht heruntergekommen wirkte… als würde er sich nur noch im verblassenden Glanz vergangener Jahrzehnte sonnen. Überhaupt hatte diese Halbstadt mitunter etwas Provinzielles an sich. Und man merkte hier und da, daß ihre Bewohner es sich offenbar recht bequem im Schatten der Mauer eingerichtet hatten. Vielleicht hatten die üppigen Subventionen des Bundes doch eine gewisse Trägheit bewirkt. Indes stolperte man immer wieder über kleine Ungeheuerlichkeiten, Dinge, die daheim noch nicht einmal denkbar waren: So stand zum Beispiel an der Gedächtniskirche eine ältere Dame mit einem großen Plakat, das eine sehr explizite Botschaft zum Thema Sexualität enthielt – diese Person war im Grunde schon eine Institution und weit über die Grenzen ihrer Stadt hinaus bekannt. Oder man ging zu einem Kiosk und sah, daß dort außer den üblichen Tabakwaren auch Haschischpfeifen verkauft wurden – ganz normal, als wäre das nichts Besonderes!

Und dann war da natürlich Kreuzberg. Für viele Westdeutsche war es dieser Stadtteil, der West-Berlin zu einer „Chaotenstadt“ machte. Hier manifestierten sich alle denkbaren Alpträume des deutschen Spießbürgers: Ein Bezirk, in dem fast nur Türken, Punks und Alternative wohnten, in dem es immer wieder Krawalle gab. Für Menschen, die sich wiederum als „anders“ betrachteten, war dieser Bezirk ein Mekka: Hier war man ausnahmsweise mal nicht eine Minderheit, hier beherrschte man die Straße!

Selbst abgeklärte Medien wie „Der Spiegel“ konnten sich der Faszination Kreuzbergs nicht entziehen: In einer langen Reportage berichtete das Magazin 1987 mit dem Titel „Der unheimliche Ort Berlin“ anhand eines mysteriösen Mordfalls in der Hausbesetzer-Szene über Hintergründe und Abgründe dieses Stadtteils. Zugleich hatte sich nach der Wende ein gewisses Unbehagen in Kreuzberg eingeschlichen: Die Mauer war verschwunden, nach Jahrzehnten der Randlage war man plötzlich wieder mitten in Berlin. Würden die kleinen Mikrokosmen, Sumpfblüten und Mauernischen von der neuen Hauptstadt überrollt werden?

Wenn der Westen Berlins für die meisten Bundesbürger schon eine merkwürdige Erfahrung war, so sollte sich der Osten für sie als eine Art Dampfhammer erweisen: Die vormalige Hauptstadt der DDR sah völlig heruntergekommen aus. Hier und da schien es so, als hätte der Krieg erst vor wenigen Jahren sein Ende gefunden. Die Spuren von Bomben, Granaten und Gewehren waren vielerorts noch deutlich erkennbar. Den Rest hatten der realsozialistische Zerfall und die DDR-Stadtplanung erledigt. An ein marodes Haus nahe des Hackeschen Marktes hatte jemand mit großen Buchstaben gepinselt: „Was der Krieg verschonte, überlebt im Sozialismus nicht“. Besonders schlimm sah es in den Bezirken Prenzlauer Berg und Friedrichshain aus. Angesichts des umfassenden Zerfalls drängte sich die Frage auf: Wo soll man hier bloß anfangen?

Der Osten Berlins war nicht nur schäbig und düster, er war zugleich auch gefährlich: In den Plattenbausiedlungen am Stadtrand, aber auch in anderen Bezirken, etablierten sich nach der Wende rechtsradikale Subkulturen, die durch brutale Angriffe auf Ausländer und Andersdenkende immer wieder von sich reden machten. Wer spät abends in den schlecht beleuchteten Straßen Ost-Berlins unterwegs war und sich durch ein „undeutsches“ Aussehen auszeichnete, fühlte sich permanent bedroht. Vor allem die S-Bahn galt als gefährlich: Hier passierte es mehrfach, daß Menschen angegriffen und bei voller Fahrt aus dem Zug geworfen wurden. Der Osten konnte ein sehr gewalttätiges Pflaster sein.

Zugleich eröffneten sich dort für viele Menschen aber auch neue Perspektiven: So gab es zum Beispiel leere Wohnungen, in denen man – angesichts der Wohnungsnot im Westen Berlins – relativ preisgünstig oder gar zum Nulltarif unterkommen konnte. Angesichts der ungeklärten Eigentumsverhältnisse hatten viele Wohnungen keinen festen bzw. feststellbaren Besitzer. So entstanden zahlreiche neue Wohngemeinschaften. Die damaligen Partys auf den Dächern der Hauser sind längst zur Legende geworden. Zugleich gab es hier auch jede Menge Häuser, in denen man Clubs, Galerien und Kneipen einrichten oder kleine Unternehmen gründen konnte. Gerade im Bezirk Mitte gab es unzählige „Nischen“, in denen sich kreative Menschen etablierten. Eine interessante Rolle spielten dabei unterirdische Bauwerke, zum Beispiel alte Keller oder Brauereigewölbe.

Hier entstanden viele Clubs, der berühmteste davon natürlich der Techno-Tempel „Tresor“. Er befand sich im ehemaligen Keller des längst abgerissenen Kaufhauses „Wertheim“. Da diese Räumlichkeit im Sperrgebiet der Berliner Mauer lag, geriet sie in Vergessenheit und wurde erst nach der Wende wieder aufgefunden. Unter der Erde konnte die Musik voll aufgedreht werden, ohne daß es jemanden störte! Darüber hinaus zogen die Ruinen und Brachen Ost-Berlins aber auch andere Menschen an: Die maroden Stadtlandschaften übten eine besondere Faszination auf morbide Personen aus. Wahrscheinlich war es kein Zufall, dass gerade der Bezirk Friedrichshain sich zu einer Bastion der „Gothic“-Szene entwickelte. Aber auch für historisch Interessierte war der Osten ein besonderes Terrain, denn hier gab es noch zahlreiche Spuren der Geschichte, die im Westen längst verschwunden waren. Die DDR hatte schließlich immer von der Substanz gelebt und konnte sich eine Modernisierung ihrer Industrie und Architektur nur partiell leisten.

Die vergammelten „Mietskasernen“ aus dem 19. Jahrhundert trugen noch die Spuren der Vorkriegszeit. Oft entdeckte man Aufschriften längst nicht mehr vorhandener Unternehmen. Neben dem Eingang der Bibliothek der Humboldt-Universität erinnerte eine verblasste „Dubcek“-Aufschrift an den „Prager Frühling“ von 1968. Und in der Wilhelmstraße stand das ehemalige Reichsverkehrsministerium, gespenstisch und mit Einschüssen übersät. Wer sich auf dieses Areal begab, stand inmitten einer kleinen Trümmerlandschaft. Ein Stück weiter war man dann in jener Brache, die sich als großer Riss durch das alte Zentrum zog und wie kein anderer Ort die Zerstörung und den Niedergang Berlins symbolisierte: Die Leerfläche zwischen Brandenburger Tor und Potsdamer Platz. Der Krieg und die DDR-Grenzer hatten das alte Areal der „Ministergärten“ flächendeckend abgeräumt. Nur unter der Erde schlummerten noch die Hinterlassenschaften der Vergangenheit: In einem unterirdischen „archäologischen Reservat“ – wie der Denkmalschützer Alfred Kernd’l es bezeichnen sollte – befanden sich die Reste des „Führerbunkers“, der Bunkerräume der Neuen Reichskanzlei, der Bunker von Hitlers Fahrbereitschaft sowie der Bunker von Joseph Goebbels. Die Debatte um den Umgang mit diesen brisanten Relikten sollte ein ganzes Jahrzehnt andauern.

Wer Berlin zu jener Zeit nicht nur besuchte, sondern sich dort niederließ, stellte schnell fest, dass die Stadt ein raues Pflaster sein konnte: Berlin war eine ungeschminkte Stadt, die ihre Narben ungeniert zur Schau stellte. Soziale Probleme, die man anderswo hinter verschlossenen Türen und zugezogenen Vorhängen nur vermuten konnte, ließen sich hier offen auf der Straße beobachten: Alkoholismus, Streitereien und Gewalt gehörten in manchen Berliner Bezirken fast schon zum Alltag. Und natürlich die Graffiti, die vielerorts die Häuser flächendeckend „verzierten“. Viel schlimmer war aber die wirtschaftliche Misere. Der Traum von der „Fünfmillionenstadt“ verflüchtigte sich schnell und wich einer ernüchternden Realität: Die üppigen Subventionen, mit denen die isolierte Exklave West-Berlin und die Hauptstadt der DDR einst bedacht worden waren, entfielen innerhalb kurzer Zeit. Im Osten der Stadt brach die nicht wettbewerbsfähige Industrie zusammen. Viele Arbeitsplätze wanderten zudem ins Brandenburger Umland ab – oder gleich nach Osteuropa. Und vielleicht hatte die Stadt auch einfach die Chance verpasst, das „Tor zum Osten“ zu werden.

So schleppte Berlin eine erschreckend hohe Arbeitslosigkeit und Schuldenlast mit sich herum; viele Menschen wanderten ab, da sie keine Arbeit fanden. Oft kam es einem so vor, als ob der Zug Berlin nur mit halber Kraft fahren würde und ständig bremsen müsste… dabei so laut quietschend, dass es in den Ohren schmerzte. Die ermüdende, endlose Debatte um die Zukunft des Schlossplatzes schien typisch für diese Zähflüssigkeit zu sein. Zu den wirtschaftlichen Problemen  gesellte sich ein gesundes Maß an Pleiten, Pech und Pannen: der Berliner Bankenskandal, das Fiasko des ersten Dokumentationszentrums der „Topographie des Terrors“, das lange Sterben des Steglitzer „Kreisels“ oder der Streit um das „abgeschnittene“ Dach des neuen Hauptbahnhofes.

Wer sich nicht gerade mit den wirtschaftlichen Problemen der Stadt herumschlug, ärgerte sich über die zahlreichen Baustellen, die ständig lärmten, staubten und im Weg standen. Oder man empörte sich über den barschen Umgangston, dem man zum Beispiel im Umgang mit den Behörden oder beim Kauf eines S-Bahntickets begegnete – gerade im Osten der Stadt. Angesichts dieses Kommandotons schien sich die These zu bewahrheiten, dass die DDR die Nachfolge Preußens angetreten hatte.

Trotz all dieser Probleme war man sich gerade als „Neuberliner“ stets der Tatsache bewusst, dass Berlin eine außergewöhnliche Stadt war, die einen immer wieder für all den Stress entschädigte. Hier geschahen Dinge, die anderswo unmöglich waren – zum Beispiel, dass ein Künstler den Reichstag einpackte. Wo sonst wäre so etwas denkbar gewesen…?

Berlin im Jahre 2009. Die Stadt scheint mehr oder weniger „fertig“ zu sein, die großen Projekte sind abgeschlossen. Um nur ein paar davon zu nennen: Berlin hat einen umgebauten funktionsfähigen Reichstag, einen neuen Hauptbahnhof, das Jüdische Museum, einen neuen Regionalbahnhof, ein renoviertes Deutsches Historisches Museum mit einer neuen Ausstellung, das Holocaust-Mahnmal, eine exklusive Friedrichstraße – und natürlich den Potsdamer Platz. In den Bezirken Mitte und Prenzlauer Berg kann man kaum noch zwischen „Ost“ und „West“ unterscheiden. Hier hat sich die Wiedervereinigung längst vollzogen, hier sieht man viele mit Nachwuchs ausgestattete deutsch-deutsche Pärchen. Insgesamt hat sich der Schwerpunkt Berlins in den früheren Osten, in den Bezirk Mitte hinein, verlagert. Die Tatsache, dass der Bahnhof Zoo weitgehend vom Fernverkehr der Bahn abgekoppelt wurde, schien diese Entwicklung noch einmal explizit zu bestätigen.

Neben diesen äußerlichen Entwicklungen hat sich Berlin aber auch auf anderen Ebenen verändert. Die Stadt ist weltläufiger und toleranter geworden. Sie hat zum Beispiel einen Bürgermeister, der sich offen dazu zu seiner Homosexualität bekennt. Der Umgangston hat sich sehr verbessert. Hier und da sieht man sogar mal einen BVG-Mitarbeiter, der einem Touristen in englischer Sprache antwortet. Oder die Ausstellung eines Museums ist zweisprachig (früher eine Rarität). Auch der Rechtsradikalismus im Osten der Stadt hat etwas nachgelassen. In der Welt hat sich langsam herumgesprochen, dass Berlin weitaus mehr zu bieten hat als die Reste der Mauer oder des Nationalsozialismus – wie zum Beispiel das umfangreiche kulturelle Angebot oder das Nachtleben.

Natürlich zeichnen sich die Entwicklungen der letzten Jahre auch durch negative Facetten aus. Wenn sich Ossis und Wessis insgesamt näher gekommen sind, so gibt es natürlich in beiden Teilen der Stadt Bereiche, in denen sich seit der Wende nicht viel getan hat: Hier steht die oft erwähnte „Mauer in den Köpfen“ tatsächlich noch. Berliner aus den kreativen Bereichen der Gesellschaft wiederum klagen, dass die Nischen, in denen man einst „sein Ding“ machen konnte, weitgehend verschwunden sind: Die Stadt ist renoviert und aufgeräumt, die Claims sind abgesteckt, das „große Geld“ hat Einzug gehalten.

Der Zuzug gut situierter Menschen aus anderen Teilen Deutschlands hat in als schick geltenden Bezirken zu einem Prozess der „Gentrifizierung“ geführt: Die durch die verstärkte Nachfrage steigenden Mieten sind für sozial Schwache nicht mehr finanzierbar, sie müssen dann in andere, weniger attraktive Bezirke umziehen. Linksextreme Gruppen versuchen, daraus politisches Kapital zu schlagen, indem sie nachts immer wieder teure Autos anzünden – eine ganz eigene Form des „Klassenkampfes“. Berlin kommt so schnell nicht zur Ruhe…

War da noch etwas? Ach ja, die Berliner Mauer! Nun, heutzutage sind davon nur noch Fragmente übrig. Das führt bei Touristen natürlich zu Problemen der Nachvollziehbarkeit: „Entschuldigen Sie bitte, wo war hier denn die Mauer?“ Und da man sich nicht auf das Gedächtnis der Einheimischen verlassen kann, sind in den letzten Jahren Info-Tafeln und sonstige Gedenkzeichen aufgestellt worden. Hier könnte man natürlich mit erhobenem Zeigefinger sagen: Vielleicht hätte man damals mehr von der Mauer stehen lassen sollen! Aber gut, weg ist weg. Insgesamt muß man allerdings lobend sagen, dass die Stadt sich nach Jahrzehnten der Verdrängung bemüht, ihr historisches Gedächtnis aufzufrischen. Viele neue Orte des Gedenkens erinnern an die Vergangenheit: Das Holocaust-Mahnmal, das „Gleis 17“-Denkmal am Bahnhof Grunewald, die Aufschriften am ehemaligen „GPU-Haftkeller“ in der Prenzlauer Allee, die neue Gedenkstätte „Stille Helden“ oder die Initiative für eine angemessene Gedenkstätte der „Euthanasie“-Opfer.

Und oft genug stolpert man noch über die „Originale“, die alten Zeichen der Herrschaft: Das monumentale Thälmann-Denkmal, ein großer NS-Bunker an der Friedrichstraße und – ja, tatsächlich! – ein Lenin, der, gar nicht so weit vom Brandenburger Tor entfernt, noch immer mit entschlossener Miene an einer Hauswand prangt. Dabei sollte er schon vor Jahren entfernt werden… Berlin: die ungeschminkte, aufregende Stadt!

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