„Corona schlug ein wie eine Bombe“
Die Situation Berliner Obdachloser während der Pandemie
Der Ausbruch der Corona-Pandemie sollte von den meisten BürgerInnen unseres Landes als gravierender Einschnitt empfunden werden:
Der ab Mitte März erfolgende „Lockdown“ bedeutete für einen großen Teil der Bevölkerung den Verlust des Arbeitsplatzes, Kurzarbeit, ein reduziertes Einkommen und verstärkte Zukunftsängste.
Zugleich führte der Lockdown in vielen Fällen auch dazu, dass ganze Familien längere Zeit daheim bleiben mussten, was oft in einem massiven Anstieg des Stresspegels, Streitereien und mitunter auch Gewalt beziehungsweise sexuellen Übergriffen mündete.
Angesichts dieser Umstände war das Gros der Gesellschaft erst einmal „mit sich selbst beschäftigt“. Nach kurzer Zeit tauchten dann aber in den Medien Berichte auf, dass die Pandemie bestimmte Randgruppen der Gesellschaft besonders hart getroffen hatte – vor allem die Obdachlosen. In welchem Ausmaß und in welcher Form sie aber betroffen waren, wurde dabei zumeist nur oberflächlich erfasst. Viele Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichten ein oder zwei Reportagen darüber – und damit hatte sich das Thema für sie erledigt. Ebenso verhielt es sich mit der Berichterstattung im Fernsehen und im Internet. Auch die sich aufdrängende Frage, wie Obdachlose sowie die sie unterstützenden staatlichen Stellen, karitative Organisationen und einzelne BürgerInnen auf diese Situation reagierten, wurde zumeist nur marginal rezipiert.
Dieses Manko war die Motivation für ein Forschungsprojekt, dessen erste Ergebnisse in dieser Broschüre nun vorgestellt werden sollen. Das Robert-Tillmanns-Haus ist ein Träger der politischen Bildungsarbeit, der sich Ende 2018 im Rahmen einer Konferenz zum ersten Mal mit der Situation obdachloser Menschen in Berlin befasste. Weiterführende Recherchen gipfelten in der Anfang dieses Jahres veröffentlichten Publikation „Obdachlosigkeit in Berlin: Rückblick, Gegenwart, Auswege“. Mit diesem Forschungsprojekt wird die Arbeit am Thema jetzt fortgesetzt. Die Ergebnisse sollen der Öffentlichkeit auch in Form eines Podcasts und eines Webvideos zugänglich gemacht werden.
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Medien zum Forschungsprojekt
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"Geteiltes Leid, halbes Leid?"
Die Situation von Randgruppen im Kontext der Corona-Pandemie
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Erlebte Teilung
Anlässlich des 50. Jahrestages der Errichtung der Berliner Mauer am 13.08.1961 möchte das Robert-Tillmanns-Haus hier die Ergebnisse einer über zwei Jahre hinweg durchgeführten Befragung seiner Seminarteilnehmer zum Thema „deutsche Teilung und Wiedervereinigung“ darstellen. Diese Thematik ist für unseren Bildungsträger insofern von besonderer Relevanz, als dass seine Vergangenheit eng mit der deutschen Nachkriegsgeschichte verflochten ist:
Das Robert-Tillmanns-Haus wurde 1959 als unionsnaher Träger im Westen Berlins mit dem Anliegen gegründet, Bürger aus beiden deutschen Staaten über die politischen Verhältnisse in der „Frontstadt Berlin“ zu informieren. Der damalige Geschäftsführer und Fluchthelfer Fritz Klöckling hatte in der DDR aus politischen Gründen bereits mehrere Jahre im Gefängnis verbracht. Durch den Mauerbau wurden unsere Aktivitäten erheblich erschwert. Trotzdem setzte das Robert-Tillmanns-Haus seine Arbeit fort.
In den folgenden drei Jahrzehnten kamen insgesamt 75 000 Bürger aus der Bundesrepublik, um anhand der einwöchigen Seminare des Robert-Tillmanns-Hauses die politischen Zustände des geteilten Berlins zu erleben. Seit 1989/1990 betrachtet unser Haus es als eine seiner Hauptaufgaben, die Geschichte der Teilung aufzuarbeiten und Vorurteile zwischen „Wessis“ und „Ossis“ abzubauen.
2007 nahm die heutige Geschäftsführung ihre Arbeit auf. Ihr fiel in den Seminaren immer wieder auf, dass gerade ältere Teilnehmer oft bewegt von persönlichen Erlebnissen im Zusammenhang mit der deutschen Teilung zu berichten wussten. Aus dieser Erfahrung heraus entstand das Bedürfnis, diese Berichte zu verschriften. Schließlich handelt es sich dabei um anschauliche „Geschichte von unten“. Die Erlebnisse tragen zudem dadurch einen besonderen Charakter, dass sie räumlich breit gestreut sind: Die Seminarteilnehmer stammen aus allen Regionen der alten Bundesrepublik.
2009 wurde ein anonymer, freiwillig auszufüllender Bogen mit Fragen zu den persönlichen Erlebnissen der Seminarteilnehmer erstellt. Dabei wurden die Anzahl der Fragen möglichst gering und ihre sprachliche Ausformulierung möglichst einfach gehalten. Vorherige Erfahrungen mit der Befragung von Teilnehmern hatten ergeben, dass komplexe Fragebögen oft als abschreckend empfunden werden. Somit war das Prinzip „Keep it simple!“ von zentraler Bedeutung. Neben den persönlichen Erlebnissen umfassen die Fragen auch die allgemeine Einstellung der Teilnehmer zur Teilung und Wiedervereinigung.
Der Fragenbogen wurde von 2009 bis 2011 an insgesamt 14 Seminargruppen ausgehändigt. 223 Teilnehmer füllten den Bogen aus. Die Befragten stammen fast ausschließlich aus der alten Bundesrepublik. Das Gros der Teilnehmer stammt aus den statistischen Altersgruppen „53-65 Jahre“ und „66 und älter“. Da das Robert-Tillmanns-Haus ursprünglich als unionsnaher Bildungsträger gegründet wurde, lässt sich bei den Seminarteilnehmern eine konservative Ausrichtungen erkennen. Es handelt sich aber keinesfalls um eine reine „CDU-Klientel“. Da nur ein kleiner Teil der Bevölkerung politische Bildung in Anspruch nimmt, kann man davon ausgehen, dass die Seminarteilnehmer ein größeres Interesse an Politik haben als der Durchschnitt der Bevölkerung und auch über größere Kenntnisse verfügen.
Das Robert-Tillmanns-Haus ist ein Bildungsträger, kein demoskopisches Institut. Aufgrund der personellen Struktur unseres Hauses musste dieses Projekt sozusagen „nebenbei“ vom vorhandenen Lehrpersonal durchgeführt werden. Dementsprechend kann und sollte dieses Projekt nicht mit den Maßstäben professioneller Demoskopie gemessen werden. Trotz dieser Einschränkungen betrachten wir dieses Projekt aber als einen eigenen, aussagekräftigen Beitrag zur Erforschung der Geschichte der deutschen Teilung. Die Bilder, die den Text begleiten, stammen aus einem „Seminartagebuch“, das von einer Gruppe angefertigt wurde, die das Robert-Tillmanns-Haus 1961 eine Woche nach dem Bau der Berliner Mauer besuchte.
Leben
im Schatten
der Mauer
Zu den Gedenkveranstaltungen anlässlich des 50. Jahrestages der Errichtung der Berliner Mauer sind zahlreiche Texte über die Hintergründe und politischen Auswirkungen des 13.08.1961 erschienen. Was aber bedeutete das Leben mit der Mauer für die Menschen in Berlin? Im Rahmen seines „Erlebte Teilung“-Forschungsprojektes rief unser in Berlin-Nikolassee ansässiger Bildungsträger Zeitzeugen aus der Nachbarschaft auf, sich bei uns zu melden (für Nichtberliner: Die Gemeinde Nikolassee liegt im Südwesten Berlins, unmittelbar an der Grenze zu Brandenburg – früher also direkt an der Berliner Mauer).
Fünf Personen kamen dieser Aufforderung nach und hatten jeweils eine ganz eigene Geschichte zu erzählen. Wer die folgenden Berichte liest, bekommt einen Eindruck davon, wie allgegenwärtig die Teilung Deutschlands, die deutsch-deutsche Grenze und die Berliner Mauer im Leben vieler Menschen waren.
Das Robert-Tillmanns-Haus möchte sich bei allen Mitwirkenden für ihre Unterstützung bedanken!
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Hans LagersteinIn seinen Memoiren nennt er sich „Hans im Glück“, eine treffende Bezeichnung angesichts dessen, was Herr Lagenstein in 85 Jahren alles erlebt – und vor allem überlebt – hat: Als Jugendlicher musste er im Kriege als Flakhelfer dienen und fiel bei einem Bombenangriff fast einem Volltreffer zum Opfer, der sein Geschütz vernichtete. Später machte er das Grauen der Kesselschlacht von Halbe mit, kam in sowjetische Gefangenschaft, wurde den polnischen Behörden übergeben und musste in einem Bergwerk arbeiten. Er gehört zu der Generation, die aufgrund ihrer Jugend für die Verbrechen des Nationalsozialismus nicht verantwortlich war, die Konsequenzen des Krieges aber in aller Härte ertragen musste. Nach seiner Freilassung 1948 gestaltete sich sein Leben ereignisreich, mitunter auch dramatisch. Gesundheitlich ist er dem Tode mehrere Male „von der Schippe gesprungen“. Seine Erlebnisse im Zusammenhang mit der Berliner Mauer wirken angesichts dieser bewegten Biographie fast harmlos. Aber lassen wir ihn selbst zu Wort kommen. Er lebte damals in Berlin-Charlottenburg und beschreibt seine Erlebnisse folgendermaßen: 13.8.61, acht Uhr früh – ein Anruf aus Düsseldorf: „Ihr werdet eingeschlossen.“ Ab ins Auto zum Brandenburger Tor! Auf der Westseite der Mauer skandieren Tausende: „Macht das Tor auf!“ Anschließend setzte Herr Lagenstein sich in seinen Wagen, fuhr zu seinem Schwager nach Köpenick (als West-Berliner konnte man zu jenem Zeitpunkt noch in den Osten der Stadt fahren) und legte ihm nahe, sich im Kofferraum des Autos in den Westen schmuggeln zu lassen, aber er lehnte ab: „Wir haben uns gerade erst eine Nähmaschine gekauft.“ Dann zeigte er ein SED-Flugblatt, auf dem stand, dass sie bald Passierscheine erhalten würden, um die Gräber ihrer Lieben im Westen zu besuchen. Derartige Passierscheine wurden freilich nie erstellt. Nach diesem Besuch ging es dann wieder zurück Richtung West-Berlin: Auf unserer Rückfahrt werden wir „Unter den Linden“ von Menschen gestoppt, die mit in den Westen wollen. „Mein Kind ist drüben, ich will zu meinem Kind.“, schreit eine Mutter. Ein Uniformierter schaut auf, beobachtet die Schreiende, wir fahren weiter, werden am Brandenburger Tor kontrolliert, der Kofferraum ist leer, wir dürfen passieren. Die Maueröffnung am 9. November 1989 hat Herr Lagenstein in aller Intensität miterlebt. Für ihn als Bewohner der Gemeinde Nikolassee war die später erfolgende Grenzöffnung Richtung Kleinmachnow (direkt auf der anderen Seite der Grenze) natürlich ein besonderes Erlebnis. Am 22.12.1989 traf er bei der Öffnung der Mauer am Brandenburger Tor auch seinen alten Kriegskameraden Kurt aus dem Osten der Stadt wieder. Ein japanischer Reporter namens Masanobu Ohashi beobachtete die beiden Männer und sprach sie an. So entstanden mehrere Reportagen für die Tageszeitung „Tokyo Shimbun“. Stolz zeigt Herr Lagenstein einen Brief aus dem Jahre 1993, in dem der Journalist sich für die mehrjährige Zusammenarbeit bedankt. Darüber hinaus besitzt er mehrere Alben mit Fotos aus der Zeit der Maueröffnung... und zahlreiche andere historische Relikte eines bewegten Lebens. Wer mit Herrn Lagenstein spricht, bekommt ein Gefühl für die Dramatik des 20. Jahrhunderts – und bewundert diesen lebendigen, freundlichen Herren, der so offen Auskunft über sein Leben gibt.
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Klaus-Günter JacobiHerr Jacobi gehört zu den „Zufallstreffern“ unseres Forschungsprojektes: Er lebt gar nicht in der Gemeinde Nikolassee, aber unser Zeitzeugenaufruf wurde ihm von einem dort ansässigen Bekannten überbracht – zusammen mit der Aufforderung, sich bei uns zu melden und von seiner Tätigkeit als Fluchthelfer zu berichten. Die entsprechenden Ereignisse spielten sich 1963 ab. Herr Jacobi war damals 22, als Kfz-Schlosser ausgebildet und lebte im Westen Berlins. Er hatte in Ost-Berlin einen guten Freund namens Manfred Koster. Dieser war sehr beunruhigt, da er gerade einen Musterungsbescheid der NVA erhalten hatte. Er wollte die DDR schnell verlassen – aber wie? Seit dem Mauerbau vor anderthalb Jahren hatten die ostdeutschen Grenzer ihr „Bauwerk“ immer weiter perfektioniert. Man konnte die Mauer kaum noch überwinden. Es war eine glückliche Fügung des Schicksals, dass Herr Jacobi ein begeisterter Autofahrer und sehr talentierter Bastler war. Seine BMW-Isetta – ein mittlerweile in Vergessenheit geratenes Modell – sollte genutzt werden, um den Freund über die Grenze nach West-Berlin zu schmuggeln. Dabei muss erwähnt werden, dass die Isetta ein recht kompaktes Fahrzeug war, das man bereits unter normalen Umständen als beengend empfand. Herr Jacobi beschreibt sie als „Motor mit Notsitz“. Aber genau dieser Sachverhalt gehörte zu seinem Kalkül: Die kleine Isetta war sicher das letzte Fahrzeug, in dessen Innereien man einen „Republikflüchtling“ vermuten würde. Und so machte er sich ans Werk. Es erforderte viel Arbeit, das Fahrzeug so zu modifizieren, dass ein Mensch dort unsichtbar und sicher transportiert werden konnte. Und danach war nur noch Platz für einen winzigen Benzintank mit einer Kapazität von weniger als zwei Litern. Das wiederum bedeutete, dass man mit dem echten Tank in die DDR fahren, dort den Flüchtling aufnehmen musste und erst dann den aus einer modifizierten Öldose bestehenden zweiten Tank einbauen konnte. Ein riskantes und aufwändiges Vorhaben. Aber Herr Jacobi war sich sicher, dass es klappen würde. Mit einem Freund wurde in der umgebauten Isetta eine erfolgreiche Probefahrt unternommen. Ein zusätzliches Problem stellte der Umstand dar, dass Herr Jacobi als West-Berliner selbst nicht an dem Fluchtvorhaben teilnehmen konnte (für West-Berliner war der Osten der Stadt damals gesperrt). Eine Studentin, die ursprünglich das Autofahren sollte, bekam plötzlich Angst und machte einen Rückzieher. Aber glücklicherweise fanden sich zwei weitere Studenten, die bereit waren, diese gefährliche Aufgabe zu übernehmen. Während einer der Fluchthelfer die Isetta fuhr, folgte der andere als Begleiter unauffällig in einem VW „Käfer“. In Buchholz wurde Manfred Koster aufgenommen und der Benzintank ausgetauscht. Und dann wäre das Vorhaben fast geplatzt: Unerwartet erschien ein Bauer, es gab einen Wolkenbruch... und in der Isetta brach ein Kabel. Sie fuhr nicht mehr! Somit musste der Begleitwagen sie abschleppen. Trotzdem kam das Gespann ohne größere Probleme durch die Grenzkontrolle. Auf der anderen Seite wartete schon Klaus Jacobi. Es sollte dann noch ganze fünf Minuten dauern, bis Herr Koster aus seinem Versteck befreit war. Heutzutage lebt Herr Jacobi im Berliner Westend und freut sich, dass er damals den DDR-Grenzern eine lange Nase drehen konnte. Es wäre gerade die Überheblichkeit und Arroganz der ostdeutschen Führung gewesen, die seine Fluchthelfer-Tätigkeit beflügelt hätte. Das Auto fiel übrigens kurz nach der Flucht dem TÜV zum Opfer. Aber mehrere andere Flüchtlinge sollten noch mit dem Isetta-Trick in den Westen geschleust werden. Insgesamt haben mindestens zehn Menschen dem „Motor mit Notsitz“ ein Leben in Freiheit zu verdanken.
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Gisela NiemannGisela Niemann wurde 1936 geboren und lebte bis 1958 in Potsdam. Sie arbeitete im Osten Berlins und erlebte damals bereits die ersten Abriegelungsmaßnahmen der DDR mit: Sie durfte nicht mehr mit der S-Bahn zu ihrem Arbeitsplatz fahren, da diese auf dem Weg nach Ost-Berlin den Westen der Stadt durchquerte. Stattdessen musste sie zeitraubend auf dem um West-Berlin herum führenden „Außenring“ fahren. Schließlich verlor sie ihren Arbeitsplatz, da sie als politisch unzuverlässig galt. Durch ihre Heirat zog sie dann nach West-Berlin. Dort erlebte sie auch den Mauerbau mit: „Wir wohnten zu jener Zeit am Kurfürstendamm und hörten im Radio, dass Stacheldraht um Ostberlin gezogen wird. Schon Tage vorher sagten meine noch in Potsdam wohnenden Eltern, dass keine S-Bahnfahrkarten mehr verkauft würden. Sie glaubten, dass man die Grenze schließen würde. Wir glaubten es nicht – und wurden eines Besseren belehrt.“ Am 13.08.1961 ging sie abends zum zentralen Ort des Geschehens: „Mein Eheman, ich und einige Freunde sind dann zum Brandenburger Tor gegangen und haben gesehen, wie der Stacheldraht ausgerollt wurde; auch stapelte man schon Mauersteine auf. Wir standen dort in mehreren großen Gruppen und haben die Vopos in Sprechchören aufgefordert, diese Maßnahmen zu unterlassen. Auch Beleidigungen waren darunter. Wir waren wütend und enttäuscht. Einige unserer Freunde sagten, das wäre alles nur vorübergehend. Aber ich werde nie den Ausspruch eines guten Freundes vergessen, der sagte: ‚Das ist für immer‘. Ich war geschockt! Hieß das doch, dass ich meine Eltern nicht mehr wiedersehen würde. So war es dann auch, bis es einige Jahre später Passierscheine gab, und ich sie in Berlin treffen konnte.“ Auch ihr Bruder wohnte noch im Osten. Zuerst war es noch möglich, sich an der Mauer zu begegnen und einander zuzuwinken. Mit dem Ausbau des Grenzstreifens waren solche Begegnungen bald aber nicht mehr möglich. Da ihr Bruder in der DDR als „zuverlässig“ galt, durfte er später dann in den Westen reisen – so auch 1986 zum 50. Geburtstag seiner Schwester. Während der Feier sagte er dann plötzlich: „Ich bleibe hier.“ Seine in der DDR verbliebene Familie stellte wiederum einen Ausreiseantrag. Sie erlitt zwei Jahre lang die üblichen Repressalien und Demütigungen, die solchen Anträgen folgten. 1988 konnte sie schließlich die DDR verlassen. Zum Leben an der Berliner Mauer schreibt Frau Niemann: „Den „Alltag“ an der Berliner Mauer habe ich dann hier in Zehlendorf erlebt, wo ich 1967 hingezogen bin. Wir wohnten in der Nähe von Düppel und hatten die Mauer bei Kleinmachnow direkt vor uns. Ein junger Mann wurde hier bei einem Fluchtversuch erschossen, der Gedenkstein steht noch dort.“ Der letzte Satz des Briefes, den sie an das Robert-Tillmanns-Haus schrieb, formuliert treffend, wie die meisten West-Berliner mit der Mauer umgingen: „Wir hatten uns, wie alle anderen, mit der Mauer arrangiert. Konnten uns aber nie daran gewöhnen.“
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Andrea KlebergerDie Restauratorin Andrea Kleberger wurde 1950 geboren und lebte bis 1982 in Berlin-Nikolassee. Seit 1999 ist sie wieder dort ansässig. Über die Errichtung der Mauer schreibt sie: „Beim Bau der Berliner Mauer war ich 11 Jahre alt und gerade bei meinen Großeltern untergebracht, da meine Eltern in Italien Urlaub machten. Aufgrund der dortigen Pressemitteilungen glaubten sie, Berlin würde abgeriegelt sein und sie könnten mich nie wieder sehen.“ Später war der Alltag an der Berliner Mauer für Frau Kleberger von einer gewissen Selbstverständlichkeit geprägt: „Die Tatsache, dass es die Mauer gab, war für uns ziemlich schnell ‚normal‘. Sie war eben einfach da. Das beeinflusste unser Leben nicht sonderlich.“ Auf die Frage nach besonderen Erlebnissen verweist sie auf die geheimnisvolle Aura der Mauer: „Die Mauer war für uns Kinder ein unheimliches Gebäude. Wir wussten nicht, was dahinter war. Es war uneinschätzbar und gefährlich, hörte man doch, bei ihrer Überwindung könnte man zu Tode kommen. Ihre Gefährlichkeit wurde auch bei den gelegentlichen Transitreisen unserer Familie nach Westdeutschland spürbar: Am Grenzübergang Drewitz war man den Vopos stundenlang ausgeliefert – die haben das oft ausgenutzt. Aber die Mauer nährte auch die Neugier, sie war spannend. Deshalb haben wir manchmal unerlaubterweise die stark und schnell befahrene Potsdamer Chaussee überquert und sind dann mit den Fahrrädern durch die Quantzstraße und den Wald gefahren. Dort kam bald, mitten zwischen den Bäumen, Stacheldraht zum Vorschein, an dem ein Schild prangte: „You are leaving the American sector“. Dahinter stand im Gebüsch die Mauer. Wir konnten uns einfach nicht vorstellen, was auf der anderen Seite war. Irgendetwas Gruseliges, an Science Fiction Gemahnendes vielleicht. Dass dahinter eine ganz normale Siedlung war, nämlich Kleinmachnow, kam uns gar nicht in den Sinn. Wir waren aber auch stolz, dass wir nicht zu denen gehörten, die durch die Mauer eingesperrt waren. Wir fühlten uns nicht eingesperrt. Trotz der Situation fühlten wir uns frei.“ Seit der Öffnung der Mauer hat Kleinmachnow für Frau Kleberger die Aura des Gruseligen verloren und sich in eine kleine Brandenburger Ortschaft verwandelt. Sie hat Bekannte dort, die sie gelegentlich besucht. Und doch bleibt ein merkwürdiges Gefühl, wenn sie mit dem Fahrrad dorthin fährt und dabei den alten Grenzstreifen passiert...
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Herr T.Herr T. lebt in einer stillen Seitenstraße, nur ein paar hundert Meter vom früheren Grenzstreifen entfernt. Er wurde 1939 geboren und kam 1945 nach Berlin. Die Familie siedelte sich in der Gemeinde Nikolassee an. Herr T. lebte zwischendurch auch in Lankwitz, hat seinen Wohnsitz aber seit 1966 am jetzigen Ort. Vor dem Mauerbau wurde Herr T. gelegentlich von seiner Mutter nach Kleinmachnow geschickt, um Brot zu kaufen – es war in der DDR wesentlich billiger. Am Grenzstreifen wurde er dabei von den ostdeutschen Grenzern angesprochen, bekam aber nie Probleme. Als unangenehm empfand er lediglich den langen Weg durch den düsteren Wald. Interessanterweise berichtet Herr T., dass es damals noch keinen optischen Unterschied zwischen Ost und West gab: Kleinmachnow zeichnete sich noch nicht durch das typische „DDR-Grau“ aus. Nach der Errichtung der Berliner Mauer hatte sich die Situation schlagartig verändert: „Wenn man mit dem Fahrrad den Königsweg herunter fuhr, befand sich links die Grenze und rechts der amerikanische Schießplatz.“ Aber man gewöhnte sich an diese Verhältnisse, wie Herr T. betont: „Was sollte man auch sonst machen?“ Angesichts der isolierten Lage West-Berlins war das Thema „Urlaub“ natürlich immer problematisch. Man musste den Flieger nehmen oder die Unannehmlichkeiten der durch die DDR führenden Transitstrecken auf sich nehmen. Herr T. reagierte deswegen so, wie viele West-Berliner es taten: Er nutzte den Wannsee als Erholungsgebiet. Und räumt ein, dass die Situation vielleicht auch einen Vorteil hatte, da es im Umfeld der Mauer keine größeren Bauprojekte gab und die grüne Landschaft im Südwesten Berlins so erhalten blieb: „Die hätten doch sonst alles zubetoniert!“ Seine Frau war übrigens im April 1961 – vier Monate vor dem Mauerbau – in den Westen gekommen. Später fuhr Herr T. etwa alle drei Monate in die DDR, um Verwandte und Bekannte zu besuchen. Er erlebte bei der Ein- und Ausreise immer wieder die Schikanen der ostdeutschen Grenzer. In seinen Unterlagen befindet sich noch ein Brief der „Zollverwaltung der DDR” Dieses Schreiben war die Antwort auf eine Beschwerde, die er eingereicht hatte, nachdem bei der Einreise in die DDR ein Buch des Anthropologen Carlos Castaneda konfisziert worden war. Natürlich wurde ihm in dem Brief mitgeteilt, dass die ostdeutschen Grenzer korrekt gehandelt hätten. Mitunter denkt Herr T. an einen früheren Arbeitskollegen namens Jean-Pierre zurück. Dieser Franzose begab sich 1973 zu den „Weltfestspielen der Jugend“ nach Ost-Berlin, lernte dort eine Frau kennen – und schwängerte sie. Dass es sich dabei nicht unbedingt um eine rein zufällige Affäre handelte, ließ sich anhand Jean-Pierres Äußerungen zum Thema „Frauen“ erkennen: „Ich muss eine Sozialistin haben!“ Da der Vater der Freundin in der DDR ein hohes Amt bekleidete, durfte sie das Land verlassen und mit Jean-Pierre nach Lyon ziehen. Besonders glücklich war sie dort aber nicht. Sie fühlte sich sehr einsam und kehrte nach einiger Zeit wieder in die DDR zurück. Diese traurige Geschichte ist nur eine von unzähligen kleinen und großen Tragödien, die aus der Geschichte der deutschen Teilung heraus entstanden. Auch über zwanzig Jahre nach der Öffnung der Berliner Mauer ist noch längst nicht alles erzählt: Herr T., der so oft in die DDR reiste, wird sicher eine eigene Akte in den Beständen der Staatssicherheit haben. Eingesehen hat er sie aber noch nicht. Bald will er einen entsprechenden Antrag stellen. Herr T. bat darum, dass sein Name und Bild nicht veröffentlicht werden.